,,Etiketten sind menschengemacht.”

Besuch Anita Lasker-Wallfischs am Bach-Gymnasium

Mittwoch, 11.07.2018

Es gibt wohl kaum ein Kapitel der deutschen Geschichte, mit dem Deutschland bis heute noch so sehr hadert wie mit dem Nationalsozialismus. Als Synonym der unmenschlichen Verbrechen haben sich der Holocaust und die damit einhergehende Ermordung Millionen unschuldiger Menschen tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Angesichts der aktuellen politischen Lage erscheint es umso wichtiger, über die Geschehnisse zu sprechen und sie nicht in den Hintergrund treten zu lassen. Hierzu bot sich Schülern der Klassenstufe 9-11 des Bach-Gymnasiums am 11.07.18 eine einmalige Möglichkeit: Anita Lasker-Wallfisch, eine der letzten bekannten Überlebenden des Holocausts, besuchte die Schule und nahm sich die Zeit, ihre Geschichte zu erzählen und sich den Fragen der Schüler zu stellen. Bereits im Januar hielt sie anlässlich des Gedenktages für Opfer des Nationalsozialismus eine viel beachtete Rede im Deutschen Bundestag.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von zwei Schülerinnen des Musikleistungskurses, die Beethovens Frühlingssonate darboten.

Mit kräftiger Stimme und klaren Worten begann dann Anita Lasker-Wallfisch zu erzählen und betonte schon zu Anfang, dass sich Musik kontinuierlich als roter Faden durch ihr Leben zieht und ihr immer wieder neue Lebenskraft gab. Ihre Familie beschreibt sie als vollkommen assimiliert, der Vater Rechtsanwalt, die Mutter talentierte Geigerin. Die Eltern erzogen ihre Kinder unreligiös und gingen selbst nur zu hohen Feiertagen in die Synagoge. Umso unverständlicher schienen ihr daher die ersten antisemitischen Beleidigungen, die sie im Alter von acht Jahren von ihren Mitschülern zu hören bekam. Mit diesem für sie seltsamen Stigma konnte sie sich nicht identifizieren. Dennoch betont sie: die Diskriminierung habe sich langsam eingeschlichen und sei ganz allmählich durch verschiedene Gesetze etabliert worden. Deshalb habe ihr Vater, den sie als „unverbesserlichen Optimisten“ beschreibt, auch zunächst nicht an Auswanderung gedacht, er ging nicht davon aus, dass sich die Deutschen von den rechtsextremen politischen Strömungen mitreißen ließen. Doch nachdem er in der Reichskristallnacht 1938 nur durch die Hilfe eines Freundes einer Verhaftung entging, begann auch er darüber nachzudenken, Deutschland zu verlassen. Als ganze Familie auszuwandern war damals nahezu unmöglich, deshalb versuchte Familie Lasker zunächst, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Der ältesten Tochter Marianne gelang als Begleiterin eines Kindertransports die Flucht nach England.

Mit 17 Jahren, also in etwa in dem Alter wie viele ihrer Zuhörer in der Aula, musste Anita Lasker-Wallfisch mit ansehen, wie ihre Eltern von Gestapo-Beamten abgeführt und deportiert wurden. Als wenig später auch die Großmutter deportiert wurde, kamen die beiden Schwestern in ein Waisenhaus und mussten zudem Arbeitsdienst in einer Papierfabrik zusammen mit französischen Kriegsgefangenen leisten. Damit diese aus der Gefangenschaft entkommen konnten, fälschten Anita Lasker-Wallfisch und ihre Schwester Papiere für die Soldaten. Auch sie selbst planten ihre Flucht mit gefälschten Papieren in die unbesetzte Zone in Frankreich – der Fluchtversuch scheiterte allerdings schon in Breslau am Bahnhof.

Die beiden Schwestern kamen vor Gericht. Die Anklage: „Urkundenfälschung, Feindeshilfe und Fluchtversuch“. Ein Verteidiger stand den beiden nicht zur Verfügung, das kam ihnen jedoch gerade gelegen, wollten sie doch durch eine möglichst lange Haftstrafe die Gefahr einer Deportation reduzieren.

Ihre Schwester wurde zu dreieinhalb Jahren im Zuchthaus verurteilt, Lasker-Wallfisch selbst zu einer Haftstrafe. Schon bald kam Renate noch vor ihrer Schwester nach Auschwitz.

Als Anita Lasker-Wallfisch von ihrer Ankunft in Auschwitz und den dortigen Zuständen erzählte, war es still in der Aula, man sah nur ernste Blicke und vereinzelt fassungsloses Kopfschütteln. Als Gefängnisinsassin entging sie den Selektionsprozessen nach der Ankunft im Lager. Ein Satz hallte besonders lange in der Aula nach: „In Auschwitz ist es besser, verurteilter Verbrecher zu sein, als unschuldiger Jude.“

Die Prozedur nach der Ankunft, die sie als „Beraubung der menschlichen Würde“ empfand, war jedoch die gleiche. Aus Gründen, die sie heute selbst nicht mehr weiß, erzählte sie dem Mädchen, das ihre Haare abrasierte, dass sie Cello spiele. Diese erwiderte erfreut: „Sehr gut, du wirst gerettet werden.“ Zunächst verstand Anita Lasker-Wallfisch nicht, was das heißen solle, doch nach kurzer Zeit in Quarantäne fand sie sich schließlich in der Lagerkapelle wieder, die Märsche für die Arbeiter aus dem Lager in den umliegenden Fabriken spielte.

Manchmal, sagt sie, habe das Lager sogar eine Illusion von mehr Freiheit als im Gefängnis gegeben, was vor allen Dingen daran lag, dass Menschen zum Reden immer in der Nähe waren. Dennoch hebt sie hervor, dass diese Illusion eine Falle und der einzige Ausweg aus selbiger der Tod war. Besonders deutlich wurde dies, als 1944 vermehrt Transporte mit Juden aus Ungarn in Auschwitz eintrafen und man begann, die Menschen in großen Gruppen zu vergasen, zu erschießen und teilweise sogar bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Noch im gleichen Jahr wurde Anita Lasker-Wallfisch schließlich mit anderen Lagerinsassen nach Bergen-Belsen gebracht, das Gerüchten zufolge ein „Erholungslager“ war. Doch auch hier herrschten unmenschliche Zustände: das Lager war hoffnungslos überfüllt, die erste Nacht mussten die Neuankömmlinge im kalten Regen verbringen. Kurz darauf verschlechterten sich die Zustände weiter, Wasser und Nahrung wurden noch knapper, über dem gesamten Lager lag der Geruch von verwesenden Leichen. „Wir mussten sie wegbringen“, schildert Anita Lasker-Wallfisch, „an Händen und Füßen mit Bindfäden zusammengebunden, trugen wir sie in Massengräber, manchmal 50-60 am Tag.“ Die Szenen, die sie als Jugendliche miterleben musste, erscheinen vielen Schülern ebenso furchtbar wie unvorstellbar.

Im April 1945 wurde das Lager schließlich von britischen Soldaten befreit. Anita Lasker-Wallfisch hatte überlebt, gehörte nun zu den „displaced persons“, wie die Überlebenden von den Besatzern genannt wurden. Doch mit dieser neuen Freiheit gingen auch Probleme einher: Sie und ihre Schwester hatten keine Heimat mehr und mussten sich auf einmal Gedanken über ihre Zukunft machen, nachdem sie im Lager die meiste Zeit für den Augenblick und den nächsten Tag gelebt hatten. Anita Lasker-Wallfisch entschied sich schließlich dazu, nach England auszuwandern und das zu tun, was schon immer ihre Leidenschaft war: Cello spielen. Mit dem von ihr mitgegründeten English Chamber Orchestra tourte sie bis zur Jahrtausendwende durch die Welt.

Abschließend hob sie hervor, dass die meisten Anhänger der Nationalsozialisten ganz normale Menschen waren, die Befehle ausführten und zeigt damit gleichzeitig die Wichtigkeit auf, regelmäßig Vorschriften und Anordnungen zu hinterfragen und nicht einfach pflichtbewusst auszuführen. Besonderen Wert legt sie auch auf die Verantwortung von Europäern und Deutschen gegenüber ihrer Geschichte und bekräftigt, durch das Erinnern an den Holocaust und das Lehren desselben könne eine humanere Gesellschaft entstehen. In ihrem Schlusswort hielt sie fest: „Etiketten sind menschen-, nicht naturgemacht.“

Anschließend hatten die Schüler die Möglichkeit, ihr Fragen zu stellen und mit ihr ins  Gespräch zu kommen. Entgegen der anfänglichen Besorgnis einiger Schüler, war Anita Lasker-Wallfisch gerne dazu bereit, alle Fragen zu beantworten und betonte, für sie gebe es in dieser Hinsicht keine Grenzen.

So erfuhren die Schüler beispielsweise, dass sie sich nach der Befreiung zunächst schwor, nie wieder deutschen Boden zu betreten oder Deutsch zu sprechen. Als das Orchester jedoch einen Auftritt nahe Bergen-Belsen hatte, entschloss sie sich dazu, mitzureisen und zu schauen, wie sich der Ort mit der Zeit entwickelt hatte. Dort traf sie auf einen jungen Deutschen, der ihr anbot, mit ihr in das ehemalige KZ Bergen-Belsen zu fahren. Anhand der Freundschaft mit dem jungen Mann erkannte sie schließlich ihre besondere Verantwortung als Zeitzeugin, über das Erlebte zu sprechen und somit einen Beitrag zur Aufklärung über die NS-Zeit besonders an Schulen zu leisten. Als ein „gutes Gefühl“ beschreibt sie es außerdem, während der Prozesse gegen Arbeiter in Bergen-Belsen als Zeugin auszusagen – auch wenn sie die Legitimität des damaligen Urteils nach wie vor in Frage stellt.

Ein Schüler fragte unter anderem, wie sie zur Schuldfrage stehe. Diese schien für sie recht eindeutig: „Keiner wurde dazu gezwungen, im Konzentrationslager zu arbeiten. Schuldig waren die, die mitgemacht haben.“

Auch über Fluchtversuche aus den Lagern berichtete sie als Antwort auf eine Frage. So habe es zwar vereinzelt Häftlinge gegeben, denen der Ausbruch aus dem Konzentrationslager gelungen sei, allerdings gestaltete sich das Leben außerhalb des Lagers als sehr schwierig. Viele sprachen auch über die Vorkommnisse in den Lagern, diese Schilderungen wurden allerdings von vielen Hilfsorganisationen nicht ernst genug genommen.

Auf die Frage, wie sie das Erlebte verarbeitet habe, gibt sie zu bedenken, dass der Verarbeitungsprozess langwierig sei und noch immer andauere, man könne die Geschehnisse nicht einfach so beiseitelegen und vergessen. Auch die Tätowierung mit der Häftlingsnummer aus dem Konzentrationslager trägt sie nach wie vor am Arm, über eine Entfernung habe sie noch nie nachgedacht.

Zudem erfuhren die Schüler, dass sie auch mit ihrem Orchester einzelne Stücke spielte, die auch Teil des Repertoires der Lagerkapelle gewesen waren. Schwierigkeiten habe sie damit nicht gehabt.

Nach dem Gespräch bestand das Angebot, Anita Lasker-Wallfischs Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ zu erwerben und signieren zu lassen, was von vielen Schülern gerne angenommen wurde.

„Don’t be a fool“ – der Titel des Abschlussstücks, gespielt von Schülern des Musikleistungskurses, fasste den Appell der Veranstaltung in einem einfachen Satz zusammen. Danach verabschiedet sich Anita Lasker-Wallfisch von den Schülern: „Liebe Kinder, lasst’s euch gutgehen!“

 

von Sara Dietrich, Klasse 11a

,,Etiketten sind menschengemacht.”

VeröffentlichungMittwoch, 11.07.2018

KategorienAlle Artikel, Geschichte, Veranstaltungen