Von Katzen, Gullydeckeln und einem scheußlichen Krieg

Mannheim liest ein Buch am Bach

Freitag, 24.11.2023

Wie aktuell, wie gesellschaftlich relevant können Bücher, genauer Romane, sein? Das Mannheimer Großprojekt „Mannheim liest ein Buch“ testet in diesem Jahr zum zweiten Mal aus, wie sehr eine Stadtgesellschaft sich durch Literatur inspirieren, verunsichern und weiterbilden lassen kann. Dmitrij Kapitelmans Roman „Eine Formalie in Kiew“ bildete dabei das Thema aller Veranstaltungen und das Bach war mit einer eigenen Diskussionsveranstaltung dabei, die den Spuren, die der Roman in die ukrainische Gegenwartsgesellschaft legt, nachging.

Sergij Orekhvo, ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit tätiger Softwareentwickler, und Petro Bokanov, ukrainisch-orthodoxer Militärkaplan, stellten sich den Fragen eines Leistungskurses Deutsch der KS 2 und dem Publikum. Die Schüler*innen waren mit Fragen zum Russland-Ukraine-Konflikt und seiner Entwicklung, zu dem im Roman ironisch-satirisch abgewickelten Misstrauen der ukrainischen Bevölkerung in ihren Staatsapparat und zum Stellenwert ukrainischer Alltagsmythen – im Roman sind es beispielsweise die unbedingte Liebe zu Katzen oder anderen Tieren und das Misstrauen in die Stabilität von Gullydeckeln – ausgerüstet.

Es gelang den beiden Gästen eindringlich, ausgehend vom Roman Brücken zu schlagen in die postsowjetische Phase ukrainischer Staatswerdung und die aktuelle Situation im Land vor Augen zu führen: Bokanov hatte bis kurz vor der Veranstaltung die Ukraine bereist und hatte beklemmende Eindrücke dabei; Orekhvo beleuchtete den Umstand, dass die gesamte Ukraine einerseits unaufhaltsam nach Westen strebt, im Alltag trotzdem weiterhin auch postsowjetisch bzw. russisch geprägt sei; die Mehrsprachigkeit im Alltag ist beispielsweise ein Beleg dafür. Trotz ihrer grundsätzlichen und vorbehaltlosen Unterstützung für die ukrainische Regierung in Kriegszeiten waren sich beide in ihrer scharfen Kritik an der ukrainischen Korruptionsmentalität einig, die mehr als nur ein staatliches Phänomen sei, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Zustand. Beide sind durch ihre Ämter als Seelsorger und Flüchtlingshelfer ständig in Kontakt mit geflüchteten Ukrainer*innen. Es verwundert sie, dass manche von ihnen immer noch der ukrainischen Regierung und nicht dem russischen Invasoren die Schuld an ihrer Flucht geben.

Sergij Orekhvo erzählte sehr anschaulich vom historischen Ursprung des Mythos der Unzuverlässigkeit ukrainischer Gullydeckel, deren postsowjetische Vorgängermodelle tatsächlich unzuverlässig und lebensgefährlich waren. Neuere Modelle seien allerdings mittlerweile unbedenklich zu betreten.

Das Gespräch endete sehr nachdenklich: Bokanov verwies in seiner Schilderung der im Roman herausgestellten ukrainischen Tierliebe auf die vielen durch den Krieg obdachlos gewordenen und verwundeten Tiere. In den sozialen Medien kursieren unzählige Videos von ukrainischen Soldaten, die sich nach den Kämpfen an der Front intensiv um die leidenden Tiere kümmern und sie an sich nehmen. „Das“, gab Bokanov dem Publikum mit auf den Weg, „erzählt auch etwas über diesen Krieg“.

Von Katzen, Gullydeckeln und einem scheußlichen Krieg

VeröffentlichungFreitag, 24.11.2023

KategorienAlle Artikel, Buch am Bach, Deutsch, Veranstaltungen