„Ihr werdet anders rausgehen als ihr reingekommen seid!“

Sprechen gegen das Vergessen

 

Montag, 29.01.2024

Besonders in unübersichtlichen und verunsichernden Zeiten passiert es innerhalb von Gesellschaften häufig, dass extreme politische Positionen einfache Lösungen versprechen sollen. Dies ist gesellschaftsübergreifend zu beobachten und ein Phänomen nicht nur unserer Zeit, sondern auch der letzten Jahrzehnte. Eine extreme Zuspitzung eines solchen Verlaufs war sicherlich das Dritte Reich, aber auch heute ist diese Problematik so aktuell wie immer. Gerade weil unsere deutsche Geschichte ein mahnendes Beispiel sein sollte, darf nicht zugelassen werden, dass die Vorkommnisse rund um die Machtergreifung Adolf Hitlers und den daraus resultierenden Holocaust in Vergessenheit geraten. Nicht nur deswegen sind Zeitzeugen so unglaublich wichtig und je weiter die Zeit fortschreitet, desto weniger von ihnen wird es geben.

Umso großartiger ist es, dass am 23. November 2023 eine solche Zeitzeugin bei einer Veranstaltung unserer Schule vor Schüler*innen der 9. und 10. Klassen gesprochen hat, um an die Ereignisse im Dritten Reich, insbesondere hier in unserer Stadt Mannheim, zu erinnern.

In Anwesenheit von Schulleiterin Frau Frauenknecht und Herrn Stefan Fulst-Blei, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, sprach Frau Karla Spagerer über ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und sorgte damit nicht nur für großes Interesse, sondern auch für Betroffenheit unter den zahlreichen Anwesenden. Wie sehr die Jugendlichen beeindruckt waren, zeigte sich auch in deren Fragen an die Zeitzeugin im Anschluss.

Die 94-Jährige wuchs als Kind in einer verfolgten Familie auf. Sie lebte mit ihrer Mutter, deren Brüdern und der Großmutter als Anhänger der Kommunisten in Mannheim.

Der Mannheimer Norden war zu der Zeit als Ort des Widerstandes bekannt. Frau Lechleiter, welche im Stadtrat und als Landtagsabgeordnete tätig war, und Karlas Mutter, die als Stadträtin mitwirkte, waren ein wichtiger Teil des Widerstands. Somit ist es nicht unwahrscheinlich, dass Karla Spagerer als letzte Zeitzeugin des Lechleiter-Widerstands angesehen werden kann. Dies war offenbar auch einer der Gründe, weshalb Karla Hitler nie selbst zu Gesicht bekam, denn die Stadt Mannheim könnte ihm möglicherweise „zu Rot“ gewesen sein. 

Die Brüder der Mutter emigrierten, noch bevor es brenzlig werden konnte, nach Paris und später über Helsinki nach Amerika. Karla hat nie wieder etwas von ihnen gehört.

Ihre eigene Erinnerung beginnt in Saarbrücken. 1936 fand die Verhaftung der Großmutter statt, weil dieser vorgeworfen wurde, mittellosen Familien geholfen zu haben. Das Urteil ordnete 18 Monate in einem Frauenzuchthaus in Bruchsal an. Kurz nach der Verhaftung ihrer Großmutter ereignete sich die Reichspogromnacht. Der Vater arbeitete in einem kleinen jüdischen Handelsbetrieb in F3. Die Inhaberinnen weigerten sich zu fliehen, doch Karlas Familie floh vorübergehend nach Waldhof. Als sie zurückkamen, stand das Tor der Firma offen und alles war verwüstet. Die Synagoge schräg gegenüber wurde gesprengt und die SA verlangte Geld für das Betrachten der zerstörten Räumlichkeiten.  

„Kinder sollten keine Angst haben“, meint Karla Spagerer, nur um kurz darauf anzumerken, selbst viel davon gehabt zu haben. Angst um ihre Großmutter, Angst vor dem Krieg, Angst vor der Gestapo und Angst um ihren Vater, der sofort in den Krieg eingezogen wurde und erst 1947 als „alter Mann“ aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.

Vielleicht ist es manchmal einfach nicht möglich keine Angst zu haben. Selbst unter den Menschen, die kaum verstanden, oder nicht wahrhaben wollten, was vor sich ging, herrschten Angst und Verunsicherung, erst recht unter denen, die Konkreteres erfahren mussten. Was aber genau mit den Juden geschah, das meint auch Spagerer erst nach Kriegsende erfahren zu haben.

In den darauffolgenden Jahren überschlugen sich die Ereignisse in der uns allen bekannten Form. Es herrschte Krieg in Deutschland und in großen Teilen der restlichen Welt.

Als am 27. März 1945 endlich die Amerikaner nach Mannheim kamen und das Kriegsende verkündeten, waren 80% der einst so malerischen Stadt zerstört.

Karla und ihr späterer Mann Walter Spagerer, entschieden sich für die Gewerkschaft (IG Metall), den SV Waldhof und die SPD aktiv zu sein. Bis heute gibt es Walter Spagerer zu Ehren die Walter-Spagerer-Tribüne im Carl-Benz-Stadion des SV Waldhof.

Aktuell herrscht zunehmende Verunsicherung darüber, wie nachhaltig der Lerneffekt aus unserer politischen Vergangenheit rund um das Dritte Reich noch ist. Antisemitische Äußerungen, auch an Schulen, kommen wieder häufiger vor und sollten uns beschämen und uns dazu auffordern, eine überdauernde Erinnerungskultur zu etablieren sowie den Wert und die Bedeutsamkeit einer funktionierenden Demokratie niemals zu unterschätzen. Dies kann in einer Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich im Allgemeinen oder mit der konkreten Stadtgeschichte Mannheims im Besonderen, welche beispielsweise bei einem Gang ins Marchivum erlebt werden kann, geschehen. Mit jedem Jahrzehnt, das seit Kriegsende vergangen ist, verblasst die Erinnerung an die Gräueltaten der Nazi-Zeit und so wichtig es für eine Nation auch sein mag, den Blick nach vorne du richten und sich neu zu erfinden, so viel schwerer wiegt die Verpflichtung aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und solche Taten sowie die Opfer dieser Taten nie zu vergessen.

Martha Lehner (11d)

„Ihr werdet anders rausgehen als ihr reingekommen seid!“

VeröffentlichungMontag, 29.01.2024

KategorienAlle Artikel, Geschichte, Veranstaltungen